Das Kapitel zur Mode in der Viktorianischen Zeit, also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrundets, zu schreiben ist nicht einfach. Nicht mehr ein Königshof oder die
Hauptstadt dominierte die Modelandschaft, sondern durch die Industralisierung und Modezeitschriften wie Harper's Bazaar (Erstausgabe 1867) verbreiteten sich immer neue Details und Stile rasend
schnell. Die Silhouette wandelte sich mehrfach radikal innerhalb weniger Jahrzehnte - hin zum kreisrunden Rock der Krinoline der 1850er, dann zur hinten aufbauschenden Turnüre der 1870er und
schließlich zur S-Silhouette mit großen Puffärmeln und Glockenrock zum Fin de Siècle der 1890er. In Nordamerika wütete in den
1860er Jahren der Amerikanische Bürgerkrieg.
In den 1850er Jahren ermöglichte der Krinoline genannte glockenförmige Unterrock, verstärkt mit Stahlreifen, den riesigen Umfang des Rocks.Den maximalen Durchmesser des unteren Rocksaums erreichte die Krinoline mit fast 5m in den späten 1850ern. Oft war der Rock zusätzlich gerüscht, was ihn noch voluminöser machte und optisch in die Breite zog. Während die Kleidung für tagsüber langärmlig und hochgeschlossen war, trug man abends breite U-Boot- oder Carmen-Ausschnitte, die die Schultern zeigten.
In den 1860ern hatte die Krinoline ein gigantisches Ausmaß angenommen. Obwohl die Bewegung einschränkend, waren Krinolinen weder schwer noch verhinderten sie das Hinsetzen. Nachdem Krinolinen aus Reifen bestehen kann man sie einfach anheben und zusammenfalten, ähnlich eines Wurfzelts beispielsweise.
Das Oberteil, ein separates Kleidungsstück und nicht an den Rock genäht, wurde gepolstert und ausgestopft wie erhaltene Beispiele zeigen. Dadurch, wie bei Kostüm- und Anzugjacken, liegt der Oberstoff glatt und bietet eine makellose Silhouette. Das skulpturale Polstern des Oberteils trug auch dazu bei, zusammen mit dem voluminösen Rock die Taille besonders klein wirken zu lassen.
Nur sehr wenige Frauen schnürten sich tatsächlich (unbequem) eng, sondern die meisten bedienten sich der optischen Illusion der Mini-Taille zwischen den zwei aufeinandergesetzten Dreiecken des Rocks und des Oberkörpers mit Betonung der Schulterpartie. Daher sind popkulturelle Mythen wie das in Ohnmacht fallen oder gar das Verschieben von Organen durch Korsette gemeinhin falsch und betrafen lediglich eine winzige Anzahl von 'Fashionistas'. Auch heutzutage gibt es (insbesondere unter in der Öffentlichkeit stehenden) Menschen Personen, die ihre Körperdurch Kleidung oder OPs über das Normalmass heraus verändern. Heute wie damals heißt das jedoch nicht, dass die Mehrheit aller Frauen ebenso handelte. Die Verschiebung von Organen ist bei normalem Schnüren nicht möglich. Bei normalem Schnüren ist das Korsett nur so eng, dass es den Körper umhüllt, aber nicht einzwängt. Durch die Maßanfertigung saß es vielleicht sogar bequemer als mancher BH dessen Konfektionsgröße nicht zum Körperbau der Trägerin passt.
Das Korsett diente der aufrechten Haltung, es ermöglichte ein 'Exoskelett' welches die Last der Röcke gleichmäßig um den Torso
verteilte und es verlieh der Kleidung Struktur. Berichte aus viktorianischer Zeit über medizinische Schäden durch Mode sind darüber hinaus in der Regel von männlichen Autoren verfasst. Oft sind
sie in hochgradig moralisierendem Ton geschrieben und tun Mode generell als frivol ab. Absätzen erging es ähnlich unter der Feder von Autoren, die medizinisches Unwissen mit Sexismus vereinten.
Sie wurden von Medizinern verunglimpft, angeblich das Herausfallen der Gebärmutter und Hysterie auszulösen - ein Schicksal, welches bisher wenige Trägerinnen von Pumps und High Heels heimgesucht
hat.
In den 1860ern wurde die Krinoline durch die Turnürenmode ersetzt. Die Fülle des Rocks war nun mehr auf die Rückseite fokussiert während der Rock
vorne flacher fiel. Diese Mode blieb bis in die 1870er erhalten, wo sie kurzzeitig verschwand und in den 1880ern nochmals für eine zweite Spitze der Popularität auftauchte. Geschaffen wurde
dieser Stil durch die Turnüre, ein Gestell, welches über dem Korsett um die Taille gebunden wurden und den Rock über dem Gesäß formte und aufbauschte. Ein gutes Beispiel, das diesen Stil
überstilisiert aber anschaulich verdeutlicht, ist George Seurat's 'Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La
Grande Jatte', 1884 - 1886.
In den 1870ern verschwand die Turnüre kurz bis etwa 1782 zugunsten der 'natural form'. Der Rock war deutlich schmäler und fiel vom Rücken über das Gesäß flach ab, ohne viel bauschende Unterkleidung oder Polster. Die Silhouette war nun schmal und hoch wie eine Säule. Auf dem Kopf gelocktes und frisiertes Haar unterstützte die nach oben strebende und aufragende Silhouette.
Die Oberteile wurden länger und zogen sich enganliegend bis über die Hüftknochen herunter, wo sie in den Rock übergingen. Der Rock war oft mit Raffungen, Rüschen, Tasseln oder Blumen verziert.
Wie bereits erwähnt kehrte in den 1880ern die Turnüre zurück und blieb bis in die späten 80er. Diese Ära wird international auch als 'Second Bustle Era' bezeichnet, wobei bustle das englische Wort für Turnüre ist.
Die 1890er waren beeinflusst vom Jugendstil und die Kleider wurden fließender, weniger geometrisch und Naturmotive dominierten Stickerei und Stoffmuster. Die S-Kurve der Zeit wurde durch Ausstopfen des Oberteils erreicht, nicht notwendigerweise durch ein Korsett das den Körper in diese Form quält wie oft angenommen. Über dem Korsett wurden Hemdchen mit Rüschen getragen, welche die charakteristische Taubenbrust erzeugten ohne den Körper zu verformen. Das House of Worth, gegründet von Charles Worth, dominierte die Modeszene der Zeit und erschuf viele der beeindruckendsten Kleider dieser Ära.
Schnittmuster:
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